Exkurs - Walter Süskind und seine Familie: Leben, Rettung, Erinnerung
1. Herkunft und Flucht nach Amsterdam
Walter Süskind wurde am 29. Oktober 1906 in Lüdenscheid, geboren. Er wuchs in einer bürgerlichen jüdischen Familie auf. Die politischen Ereignisse nach der Machtergreifung Hitlers zwangen ihn, gemeinsam mit seiner Frau Johanna und seiner einzigen Tochter Yvonne das Land zu verlassen. Bereits während der Boykottaktionen und der ersten judenfeindlichen Gesetze wurde die Situation in Deutschland zunehmend bedrohlich. 1938 floh die Familie nach Amsterdam, das für viele deutsche Juden als letzter sicherer Zufluchtsort galt.
In Amsterdam begann für die Süskinds ein neues Leben. Walter Süskind erhielt eine Anstellung bei der Firma Unilever, wo er sich rasch integrieren konnte. Die Familie wohnte in einem der damals modernen Stadtviertel, sie versuchten, trotz der zunehmenden Bedrohung ein normales Leben zu führen. Der Alltag war durch manche Umstellung und Angst vor der politischen Situation geprägt.
2. Die Besetzung der Niederlande und das Entstehen des Rettungsnetzwerks
Im Mai 1940 besetzten deutsche Truppen die Niederlande. Kurz darauf begann die systematische Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung auch in Amsterdam. Mit der Einsetzung des Jüdischen Rats entstand eine Zwangsverwaltung, an deren Spitze im Laufe der Zeit auch Walter Süskind als Verwaltungsleiter der „Holländischen Schouwburg“ mitarbeitete.
Ab Sommer 1942 wurde das ehemalige Theater in ein Sammellager umgewandelt. Hier mussten sich alle Amsterdamer Juden einfinden, bevor sie deportiert wurden. Süskind nutzte seine dortige Vertrauensstellung auf beeindruckende Weise, um heimlich ein weitverzweigtes Rettungsnetzwerk aufzubauen. Er erkannte die Chance, durch seine Position Einfluss auf Listen, Transporte und Zugänge zu nehmen.
3. Die Familie Süskind im Schatten der Deportation
Das private Leben der Familie Süskind war von der Bedrohung durch Verhaftung und Deportation geprägt. Johanna Süskind unterstützte ihren Mann in vielerlei Hinsicht, half bei der Betreuung gefährdeter Kinder und übernahm organisatorische Aufgaben im Hintergrund. Tochter Yvonne war zum Zeitpunkt der Besetzung ein Schulkind, sie lebte in ständiger Angst um ihre Zukunft.
Es sind berührende Fotografien und Briefe erhalten, die belegen, wie eng die Familie zusammenhielt. Ihre Wohnung diente oft als Unterschlupf und Zwischenstation für versteckte Kinder, die von Süskinds Netzwerk betreut wurden.
4. Aufbau und Funktionsweise des Rettungsnetzwerks
Süskind entwickelte zusammen mit anderen, darunter Henriette Pimentel (Leiterin der benachbarten Kinderkrippe) und Felix Halverstad, eine ausgefeilte Methode zur Rettung jüdischer Kinder: Im Hinterhaus der „Creche“ wurden Kinderausweise gefälscht, Listen manipuliert und heimliche Fluchtwege organisiert.
Essentiell waren die Verbindungen zu niederländischen Widerstandskreisen. Mutige Helferinnen und Helfer, etwa Studenten, Kindergärtnerinnen, Ärzte und Geistliche, riskierten ihr eigenes Leben, um die kleinen Kinder aus der „Creche“ abzuholen und mit Fahrrädern, Bollerwagen oder in Einkaufsnetzen aus der Gefahrenzone zu bringen.
Süskind koordinierte den gesamten Ablauf: Er wählte die Kinder aus, deren Namen durch Manipulation in den Listen „verschwanden“. Die Mädchen und Jungen wurden verdeckt auf neue Bauernhöfe, kirchliche Institutionen oder zu Pflegefamilien gebracht, wo sie überlebten, oft getrennt von ihren Eltern.
5. Kinderrettung: Methoden und Risiken
Jede Rettungsaktion war von großem Risiko begleitet. Die Kinder mussten an den Wachposten vorbei, dabei half oft eine gekonnte Ablenkung seitens Süskind oder seiner Mitstreiter. Falsche Dokumente, improvisierte Verstecke (wie Körbe, Taschen, Decken) und konspirative Zeichen gehörten zum Alltag.
Süskind selbst sagte später, dass er nie einen „Masterplan“ gehabt habe – jede Rettung musste individuell entschieden und angepasst werden. Dass etwa 1.000 Kindern das Leben gerettet werden konnte, gilt als ein Wunder der Zivilcourage.
6. Zusammenarbeit mit der Familie, Motivation und Belastung
Die enorme Belastung, unter der Süskind und vor allem seine Familie standen, lässt sich kaum ermessen. Johanna Süskind litt fortwährend unter Angst um ihren Mann und die Tochter. Dennoch unterstützte sie das Netzwerk und fungierte als moralische Stütze für viele Mütter, die ihre Kinder aus der „Creche“ abgaben.
Der Wunsch, trotz allem wenigstens einige Familien retten zu können, wurde zur Triebfeder der Süskinds. Ihr eigenes Schicksal stand stets auf Messers Schneide. Als Walter Süskind im September 1943 kurzzeitig verhaftet wurde, stand die Familie unmittelbar vor der Auslieferung an die Gestapo.
7. Verhaftung, Deportation und Ermordung
1944 verschärfte sich die Lage. Zunehmende Razzien, eine härtere Gangart der NS-Besatzer und Misstrauen gegen „Judenrat“-Mitarbeiter machten Rettungsaktionen schwieriger. Die Süskinds wurden verraten und im September 1944 über Westerbork erst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz deportiert. Johanna und Yvonne Süskind wurden in Auschwitz ermordet.
Über den Tod von Walter Süskind gibt es differenzierte Informationen. Walter Süskinds genaues Todesdatum ist der 28. Februar 1945, der Todesort hingegen bleibt ungewiss: Während häufig Auschwitz oder ein Todesmarsch genannt werden, wird in einigen Berichten auch Bergen-Belsen als möglicher Ort seines Todes erwähnt, ohne dass es dafür einen gesicherten Nachweis gibt.8. Nachkriegszeit – Kontroverse um die Rolle von Walter Süskind
Nach dem Krieg wurden viele ehemalige Mitarbeiter des Judenrats beschuldigt, mit den nationalsozialistischen Machthabern zusammengearbeitet zu haben; auch Walter Süskind wurde von manchen als Teil dieses Systems wahrgenommen, obwohl er im Verborgenen zahlreiche jüdische Kinder rettete und somit zugleich Opfer und Widerstandskämpfer war. Das belegen zahlreiche Zeugenaussagen, insbesondere der damals geretteten Kinder und ihrer Familien: Walter Süskind nutzte seine privilegierte Stellung mutig und gezielt zur Rettung anderer.
In den Niederlanden und in Deutschland setzten spätere Lesungen, Ausstellungen und Filme ein differenzierteres Verständnis durch. Süskind gilt heute als einer der wichtigsten „stillen Helden“ – in einer Grauzone zwischen Zwang, Verantwortung und Rettungswille.
9. Nachfahren und familiärer Nachhall
Obwohl die Kernfamilie Süskind ausgelöscht wurde, zeugen heute Briefe, Fotos und Berichte von ihrem Mut und ihrer Menschlichkeit. Viele der geretteten Kinder betrachten sich als „Süskinds Kinder“ und pflegten das Andenken an ihre Retter.
Vereinzelt leben entfernte Verwandte der Süskinds in Israel, England und den USA. Besonders in der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ist der Name mit Hoffnung und Widerstand verknüpft.
10. Erinnerungskultur und Gedenken
In Amsterdam erinnern zahlreiche Gedenkstätten an Walter Süskind: Eine Brücke trägt seinen Namen („Walter Süskindbrug“). Im früheren Jüdischen Theater, wo heute ein Museum zur Geschichte der Deportationen eingerichtet ist, gibt es eine eigene Ausstellung zum Thema Kinderrettung.
Gedenktafeln, Stolpersteine und jährliche Zeremonien ehren Süskind und seine Familie. Sein Mut und das Leiden seiner Frau und Tochter stehen exemplarisch für das Ringen um Menschlichkeit in unmenschlicher Zeit.
Auch in Filmen, Büchern und auf niederländischen Webseiten wie der des „Holländischen Schouwburg“ wird seine Geschichte detailliert vorgestellt. Etliche ehemalige „Süskind-Kinder“ kamen zur Einweihung der Gedenkorte und sehen in ihm ihren Retter.
11. Nachwirkung und aktuelle Forschung
Bis heute ist die Forschung zu Leben und Wirken Walter Süskinds lebendig. Historiker wie Matthias Wagner aus Lüdenscheid oder auch andere Biografen seiner ursprünglichen Heimat, sorgen dafür, dass neue Quellen erschlossen werden. Zeitzeugenprojekte, Interviews und Ausstellungen sensibilisieren vor allem junge Menschen für die Themen Toleranz, Verantwortung und staatsbürgerliche Zivilcourage.
Das Andenken an Walter Süskind und seine Familie steht als Auftrag, der Barbarei nie nachzugeben, sondern auch in scheinbar aussichtslosen Zeiten den Mut zur Rettung zu bewahren.
Weiterführende Quellen:
- Anne Frank Haus (Chronik: Rettung jüdischer Kinder aus der Hollandsche Schouwburg): Offizielle niederländische Gedenkstätte mit Hintergrund zur Kinderrettung und der Rolle Süskinds.
https://www.annefrank.org/de/timeline/157/judische-kinder-aus-der-hollandsche-schouwburg-gerettet/- Hollandsche Schouwburg (heute: Nationale Holocaust Gedenkstätte Amsterdam): Infos über das Theater, die Geschichte und die Kindersmuggel-Aktionen.
https://www.holocaustmuseum.nl/doe-en-zie/geschiedenis/hollandsche-schouwburg/- Traces of War: Biografischer Überblick, thematisiert Süskinds Rolle als Retter, Täter und Opfer.
https://www.tracesofwar.com/articles/3197/Walter-S%C3%BCskind.htm- Holocaust Historical Society: Ausführliches Porträt (engl.) zu Leben und Netzwerk Süskinds.
https://www.holocausthistoricalsociety.org.uk/contents/jewishbiographies/waltersuskind.html- Geschichts- und Heimatverein Lüdenscheid: Regionale Quelle mit biografischem Aufsatz in Download-Fassung (PDF, deutsche Sprache).
https://www.ghv-luedenscheid.de/download/der-reidemeister/Der-Reidemeister_122_06.04.1993.pdf- Friedensgruppe Lüdenscheid: Kurzbiografie in Erinnerung an Süskind, seine Herkunft und seine Verdienste.
http://www.friedensgruppe-luedenscheid.de/neu_termine_sueskind.html- Holocaust Research Project – The story of Walter Süskind (engl.):
https://holocaustresearchproject.net/survivor/suskind.html- Joods Cultureel Kwartier – In de Hollandsche Schouwburg: Walter Süskind - Uniek materiaal van een verzetsheld (Niederl.,.):
https://jck.nl/agenda/de-hollandsche-schouwburg-walter-suskind-uniek-materiaal-van-een-verzetsheld
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